WAS IST SO BESONDERS AN ERANOS?

von Hans Thomas Hakl

 

Tagungen, wo man qualifizierte Vortragende hören kann, gibt es in zahlreichen Formen und zu allen nur vorstellbaren Themenkreisen. Worin liegt also das Besondere, wenn nicht gar Faszinierende an Eranos, von dem der vielleicht bedeutendste Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Mircea Eliade, sagte: „Ascona und die Eranosgruppe faszinierten mich von Anfang an“? Und es kann sich nur um etwas ganz Besonderes handeln, das Eranos von 1933 - über einen fürchterlichen Weltkrieg und den Tod der „Gründergeneration“ hinweg - bis heute am Leben zu erhalten vermochte. Was also erweckt Eranos tief im Menschen, so dass es ihn gleichsam nach Eranos „drängt“, ja dass Eranos für ihn, wie es der Basler Naturwissenschaftler Adolf Portmann ausdrückte, gar „schicksalhaft“ und zum „Zentrum des innersten Lebens“ werden konnte?  

Die Geschichte von Eranos wird nicht alle Antworten geben, aber einige Hinweise darauf mit Sicherheit. Entstanden sind die Tagungen primär aus der Suche der in London geborenen Holländerin Olga Fröbe-Kapteyn nach einem Ausweg aus - sagen wir es offen – großer seelischer und spiritueller Not. Und wie viele in ähnlicher Lage suchte die künstlerisch begabte und vielsprachige Frau überall und immer drängender nach Antworten. Zuerst in der Kunst und Literatur und dann in der Spiritualität des Fernen Ostens. Von der Theosophie gelangte sie zu Meditation und Yoga. Durch die Zeitschrift Yoga – Internationale Zeitschrift für wissenschaftliche Yogaforschung, in deren Herausgeberkomitee Namen wie Helmuth von Glasenapp, Jakob Wilhelm Hauer, Walter Evans-Wentz, Arthur Avalon und Heinrich Zimmer aufschienen, kam sie in Kontakt mit einigen der führenden Forscher auf diesem Gebiet. Carl Gustav Jung hatte sie wahrscheinlich bei einer Tagung der „Schule der Weisheit“ von Hermann Graf Keyserling kennen gelernt. Weitere Religionswissenschaftler und da vor allem Rudolf Otto sowie Psychotherapeuten kamen bald hinzu. Mit solchen Leuten wollte sie nun Tagungen organisieren, um Antworten auf die quälenden Fragen zu bekommen, die sie sicher war, mit vielen, vielen anderen Leidensgenossinnen und –genossen zu teilen. 

Hier haben wir bereits einen der wichtigsten Schlüssel für das Besondere an Eranos. Frau Fröbe wollte Fachleute, die sich mit den Urfragen der Menschheit und mit den Wegen aus dem allgemein menschlichen Leid beschäftigten: Religionswissenschaftler, Philosophen und Psychotherapeuten. Und da sie überzeugt war, für diese große Aufgabe Hilfe von überall zu benötigen, suchte sie nicht nur moderne abendländische Lösungen, sondern wollte auch den Osten mit seiner uralten Weisheit einbinden. Eine „Begegnungsstätte zwischen Ost und West“ nannte sie deshalb Eranos zu Beginn. Aber auch die abendländische Antike mit ihrer so anderen Religions- und Lebensauffassung konnte Lösungen bieten. Ost-West, Antike-Moderne: das waren also die weitfassenden Koordinaten ihres Denkens. Darin lag noch eine weitere Koordinate verborgen, nämlich diejenige, die Geist und Seele einen sollte. Wissenschaftliches Denken, das einer genauen Methodik gehorchen muss, verbunden mit dem pulsierenden Leben der Seele, das sich nicht nur in schönen, sondern auch in furchterregenden Bildern manifestiert. Das Ziel: Der Mensch als „Ganzheit“, so wie er sich in manchen alten Mythen darstellt.

Der Frau Fröbe nachfolgende langjährige Präsident von Eranos, Adolf Portmann, sprach zusammenfassend von einem „archaischen Geistesgut“. Die Pflege dieser archaischen Weltsicht geschehe aber nicht, wie er es formulierte, aus einer „prinzipiellen Gegenstellung“ zur rationalen Weltauffassung, sondern weil „hier die Harmonie von rationalem und irrationalem Erleben reiner und reicher sich zeigt, weil hier die schöpferischen Mächte in ihren mächtigsten Zeugnissen von der Größe des Geistigen künden und so auf Heilkräfte hinweisen, die zu verlieren wir in Gefahr sind - ja, die viele Menschen des Abendlandes in erschreckendem Ausmaß bereits aus dem Blick….verloren haben.“ Und er meint, dass Eranos „wieder ahnen lässt, was eine Sakralisierung des ganzen Lebens und des Kosmos an Geborgenheit und Größe des Lebensgefühls zu schenken vermag.“  

Eine solche - im Idealfall gelungene - Synthese, geschöpft aus einem möglichst breiten Erfahrungsschatz aus der gesamten Menschheitsgeschichte sowie allen Kontinenten, aufbereitet durch moderne wissenschaftliche Methoden und einfühlend nachempfunden, muss natürlich anders auf den Menschen wirken als eine rein positivistische und abstrahierende Geisteshaltung, die das seelische Erleben auf die Seite schiebt. Und wie strebt man eine solche Synthese an? Neben den Fakten und Analysen muss auch ein eher bildhaftes, analoges und die Zuhörer miteinschließendes „mythisches“ Denken zum Tragen kommen, denn nur dieses vermag die Seele anzusprechen und sie an ihr besonderes Wesen zu erinnern. Die Eranos-Vorträge haben, wenn sie gelingen, somit immer etwas „Magisches“ an sich. Wiederum im Idealfall vermag dann unser inneres Wesen mit dem Inhalt des Vortrages mitzuschwingen wie die Saite eines Musikinstruments. So wird aus einem abstrakten Sachverhalt etwas, das ich ganz persönlich geistig und seelisch zu nützen vermag.  

Was sonst noch ist „anders“ an den Eranos-Tagungen?  Vor allem gibt es mehr Muße. Qualität steht vor Quantität, denn die Vortragenden sollen genügend Zeit zur Verfügung haben,  um ihre Gedanken organisch und in Ruhe zu entwickeln, so dass die Zuhörer tatsächlich geistig und emotional folgen können. Daher sind die Vorlesungen auch in zwei Abschnitte geteilt, mit einer Pause dazwischen. Die Vortragenden – das war allerdings in der Anfangszeit nicht so – sind zudem bereit, auf die Fragen des Publikums ausführlich einzugehen. Gemeinsames Essen und an bestimmten Tagen gemeinsames Musikhören und manchmal gemeinsame Ausflüge in die Umgebung  sollen auch freundschaftliche Bande erleichtern. Es geht eben immer um den „ganzen“ Menschen. Die Vielfalt der Besucher und Besucherinnen aus den unterschiedlichsten Ländern trägt ebenfalls zur Bereicherung bei.  
   
In einer Zeit, wo viele einen gewalttätigen Zusammenprall der Kulturen  befürchten und manche leider auch darauf hinarbeiten, wird bei Eranos – und das war sogar während des II. Weltkrieges der Fall – das Gemeinsame der verschiedenen Kulturen in den Vordergrund gestellt. Insbesondere die in allen Kulturen und zu allen Zeiten nachzuweisende Suche  nach den spirituellen Wurzeln des Menschseins, da diese  „wahren“ Frieden im umfassendsten Sinne verheißen. Und diese Suche wendet sich eben auch nach „innen“. Nur wer sich  auf das „Innere“ einlässt, vermag zwischen Kulturen, Epochen und wissenschaftlichen Disziplinen zu vermitteln, wie es das erklärte Ziel von Eranos ist. Denn im „Inneren“ finden wir das alle Menschen zutiefst Verbindende, das in zahllosen Ausdrucksformen immer dasselbe Eine ist.

Dieses „Eine“ lässt sich sprachlich-logisch nicht erfassen, man kann es nur umkreisen, wie C.G. Jung meinte. Oder vielleicht auch „umtanzen“. Was uns zu Olga Fröbe-Kapteyns Erklärung führt, wonach Eranos ein „Tanz“ sei, „der bleibt, selbst wenn die einzelnen Tänzer weitergehen“. Der Tanz als Ausdruck von Lebensfreude und Festtagsstimmung hingegen lässt vor unseren Augen das sonnenbeschienene Ascona erstehen, wo Eranos geboren wurde und weiterlebt. Diese Stadt, an Berg und See geschmiegt, ist eben gleichfalls etwas ganz Besonderes an diesen Tagungen. Der berühmte genius loci von Eranos, dem zu Ehren im Garten der Frau Fröbe eine Stele errichtet worden ist, wusste augenscheinlich, welchen Ort er für seine Manifestation erwählte.

Eranostage sollen eben Festtage für Geist und Seele sein.

Hans Thomas Hakl

 

PS. Wer mehr über die Geschichte und Hintergründe von Eranos erfahren möchte, sei auf das Buch von Hans Thomas Hakl, Der verborgene Geist von Eranos. Unbekannte Begegnungen von Wissenschaft und Esoterik, Bretten, Scientia nova 2001,
http://www.scientia-nova.de/ verwiesen.

Erweiterte englische Ausgabe: Hans Thomas Hakl, An Alternative Intellectual History of the Twentieth Century, Equinox Publishing, London, 2012
http://www.equinoxpub.com/.

Für 2007 geplant war eine erweiterte italienische Ausgabe bei Edizioni Magi in Rom,
http://www.magiedizioni.com/

 

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